Dreissigster Oktober, das Motorrad muß von der Straße ins Winterlager. Der Motor springt mit Choke ganz gut an. Nach der Standzeit die letzten zwei, drei Monate hat er allerdings keine Kraft, also wird die Drehzahl erhöht und mit schleifender Kupplung losgefahren. Es wird mit steigender Motorwärme nicht besser. Der Motor geht ohne Choke aus und auch die Leistung kommt nicht. Es ist ein ziemlich nervendes Fahren durch die Stadt, und gefühlt jede Ampel zwingt zum Anhalten und der Kupplungsbelastung bis zur Stadtgeschwindigkeit. Dann kommt natürlich eine Baustelle, bei der ich links abbiegen müßte. Geht nicht, weiter geradeaus und bei der nächsten Gelegenheit gewendet. Man kann die Kupplung bereits riechen. Das Wenden ist mit Motorheulen verbunden, weil auch dreitausend Umdrehungen der Kurbelwelle nötig sind sind. Zum Glück ist hier wenig Verkehr um über die zwei Spuren auf die Gegenfahrbahn zu kommen. An der Ampel kann ich jetzt rechts abbiegen und bin auf der Zielgeraden. Beim Zweiradlager werde ich im Büro nach gewünschten Wartungsarbeiten gefragt. Klar, die Maschine läuft ja nicht rund und das wird auf dem Stellplatzzettel vermerkt. Da kommt der Chef herein und meint: „Nein, nein, da gehe ich nicht heran, das sind ja zwei Bing-Vergaser.“ Diese Nachgeborenen, die können nur noch Computerauslesen und Bauteile wechseln. Ist im Augenblick auch nicht so wichtig. Das Radl ist von der Straße und steht trocken und sicher. Im Frühjahr kann ich mich dann darum kümmern.
Ich verlasse zu Fuß mit meinem Helm den Gewerbehof. Allerdings geht mir schon in Toreinfahrt die Atemluft aus und eine Pause bei dem Eingang neben der Einfahrt ist nötig. Auf den Stufen kann man sich hinsetzen, was auch angesagt ist. Meine Smartwatch kann Blutdruck und Puls anzeigen, nur ob und wie eine Bradykardie gemeldet wird, weiß ich nicht und irgendwie traue ich der Anzeige nicht über den Weg. Die zeigt immer einen Puls um fünfundachtzig bis einhundertzwanzig an. Helfen würde es ohnehin nicht. Die Bushaltestelle ist zirka vierhundert Meter entfernt. Dazwischen muß ich einmal an einem Zaun Pause machen und über die Ampel gehen. Bushaltestelle mit einem Dach und Sitzgelegenheiten sind wie für mich gemacht. Der nächste Bus ist mir zu voll, den lasse ich mit weiteren Fahrgästen ziehen. Den Bus, den ich nutze ist ziemlich leer und er fährt durch die Pampa nach Buckow. Am U-Bahnhof Alt-Mariendorf ist eine ziemliche Hektik beim Aussteigen, was mich eher verleitet meine Schritte sorgfältig zu setzen, denn Stürzen will nicht. Ich trete einen Schritt aus der Rennpiste zur U-Bahntreppe und lasse die eilenden Massen strömen. Mit meiner eigenen Geschwindigkeit nehme ich den Weg auf mich, achte auf den Handlauf rechts an der Treppe, denn ohne Rettungsanker in der Hand kann ein Sturz auf einer Treppe leicht zu Knochenbrüchen führen. Ja, soweit vorausschauend denkt man schon, auch wenn das Ereignis nicht zu erwarten ist.
Da hier der Endbahnhof der U-Bahn ist, ist in der Bahn ein Sitzplatz für mich frei. Da sitzt doch mir gegenüber Agnes. Ich sehe sie direkt an, doch sie schafft es mich minutenlang zu ignorieren bis ich den Augenblick erwische, wo sie mich ansieht und nicht erkennt. „Hallo Agnes“ spreche ich sie an. Sie entschuldigt sich, weil sie mit mir und meinem Namen nichts anfangen kann und nicht ganz so gut drauf ist. Ich lasse es dabei, weil man in der U-Bahn keinen öffentlichen Unterricht in Erinnerungsauffrischung gibt. Ich bedauere zwar den Zustand der Frau, mit der ich vor wenigen Jahren bei einer Gedenkveranstaltung im Konzentrationslager Flossenbürg und ihrem Geburtsort Bad Königswart im Sudetenland war. Es war gar nicht so einfach die Adresse zu finden, habe ich auf Grund der Beschreibung annähernd gefunden. Die Bestätigung erhielt ich erst nach dem Kontakt zu den Sudetendeutschen. Da lebte noch einer, der den Ort kannte.
Sie ist Tochter eines der ersten Häftlinge in Dachau und später als einer der ersten in Flossenbürg.
An ihm wurde medizinisch geforscht, er wurde vorsätzlich (wahrscheinlich) mit Tuberkulose infiziert, woran er wenige Jahre später verstarb oder besser elendich zu Grunde ging. Nach dem Krieg waren viel zu viele Nazis am Leben und hatten alle von nichts gewußt. Die Aufarbeitung in der Medizin war schnell den Anforderungen des aktuellen Lebens gewichen. Erst nachdem wirklich der letzte Täter aus den Gestaltungsebenen verstorben waren, konnte oder ging man den erhaltenen Spuren nach.
„Verdrängung und Verleugnung wurden zur Maxime im Umgang mit der eigenen Geschichte. Um sich reinzuwaschen, richtete man den Blick verklärend in die Vergangenheit, schönte Biografien und „entbräunte“ Bücherneuauflagen. Ein weiteres und gängiges Mittel zur eigenen Rehabilitierung war die Einengung des Täterkreises auf einige wenige, am besten bereits verurteilte Schuldige.“
(https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/s-0044-100315.pdf)
Unter der Überschrift Pradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik findet sich im obigen Dokument die Begründung für die Menschenversuche: „Die Gesundheit des ‚Volkskörpers‘ sei vorrangig, ‚Sonderwünsche der Einzelnen‘ seien zweitrangig.“
Alleine die Anzahl der Ärzte im Konzentrations Lager Dachau ist heute beeindruckend. ( https://de.wikipedia.org/wiki/Personal_im_KZ_Dachau#SS-%C3%84rzte )
Nach den Erzählungen von Agnes scheint er ein Kommunist oder Sozialdemokrat gewesen zu sein, jedenfalls einer der im Dorf eigenwillig war. Außerdem hatte ich im Augenblick mein eigenes Päckchen zu bewältigen, ähh, sollte Luft sparen um am Mehringdamm umzusteigen, da für eine Station ein Schienenersatzverkehr eingerichtet war. Aussteigen die Treppe erklimmen und den Busabfahrtspunkt suchen und erreichen, alles im Gewusel des ersten Feierabendverkehrs. Agnes steigt auch am Mehringdamm aus und sagt tschüs, allerdings viel schneller als ich mich bewegen kann. Sie fährt wohl zum Flughafen Tempelhof um mit dem Bus nach Hause in die Tempelhofer Vorstadt zu kommen.
Die Zeit in der U-Bahn hat offensichtlich nicht gelangt um meine Regeneration zu bewältigen. Oben auf der Straße sehe ich keinen Busersatzverkehr und warte den Menschenstrom ab um dann auch in Richtung LPG, einer BIO-Laden-Genossenschaft, und der IHK-Berlin zu schleichen. Kein Bus zu sehen, dafür viele Leute im frischem kühlen Wind vor dem Halteschild beim Warten. Der frische Wind ist wärmeabführend und mein Körper braucht sein Blut um die Wärme zu halten, so nehme ich einen Standplatz in der Ecke des Finanzamtes ein. Wozu diese Aussparung im Erdgeschoß des Gebäudes jemals diente entzieht sich meiner Kenntnis. Für irgendetwas mußte sie einmal für die Dragonerkaserne geplant gewesen sein. Einen regensicheren Platz für den Posten am Eingang wäre denkbar.
Das Umsteigen wieder in die U-Bahn am Bahnhof Möckernbrücke ist eine Quälerei, denn der Bus hält auf der falschen Straßenseite. Der U-Bahnhof ist nämlich rechts und links des Kanals gebaut und ich muß den Kanal überqueren. Nach Treppensteigen auf und ab ist mir garnicht. Das ist das letzte Teilstück zur Zielstation Bayrischer Platz. Doch anscheinend bin ich am Ende meiner Kräfte, ich brauche drei Pausen von der Bahn bis nach Hause, was früher in kurzer Zeit zu bewerkstelligen war und versuche mit Traubenzucker meine vermutete Unterzuckerung aufzupeppen.
In der warmen Wohnung lege ich mich ein paar Minuten aufs Bett.