Auf Svendura.de berichtet Svenja
„Ein Mann kommt auf mich zu. (…) Er betrachtet die Honda und wir kommen ins Gespräch. Er selbst fährt eine MZ 250, ein Zweitakter. (…) Wir sprechen über Motorräder, Technik und Reisen. Dann holt er tief Luft und berichtet mir von seinem größten Traum: ‚Einmal im Leben mit dem Motorrad nach Husum fahren.‘
Er sagt nicht, weshalb gerade Husum, aber an seiner Stimme und dem Blick erkenne ich, wie ernst es ihm ist.“
Ich gebe vorlaut und ungefragt meinen Senf dazu: „Früher oder später wirst du es bedauern, den Mann nicht nach seinem Beweggrund, nach Husum zu fahren, gefragt zu haben.“
Das ergab eine direkte Reaktion: „Leider ist „auf dem Parkplatz vor EDEKA“ nicht der richtige Ort für tiefergehende Gespräche (Werner! Can your read me?!)“
Yes i can read,
aber Exculpation is nich.
Schön die Feststellung: „wirkte gebrochen“ etc. Nur: das ist ein Signal. Der schwingt eine große Flagge: hilf mir, höre mir zu.
Wurde ja auch verstanden, aber „nicht der richtige Ort“ ist eine Ausrede.
Aber das Problem kenne ich.
Fritz Lichtward, ein Nachbar in den achtziger Jahren, kam in eine Eckkneipe mit aufgekrempelten Ärmel. Deutlich auf seinem Arm eine tätowierte KZ-Nummer zu sehen. Nun frag den einmal in einer solchen Umgebung, was es sich darauf hat?
Ich habe nie die Gelegenheit gefunden ihn daraufhin anzusprechen. Dann war er plötzlich in einem geriatrischen Krankenhaus janz weit draußen, also jot we de. Wann er gestorben ist, entzieht sich auch meines Wissens. Im Endeffekt weiß ich nichts, würde ich aber gerne und ein bißchen konnte den Menschen einschätzen.
Ein anderer Teilnehmer will Svenja beispringen:
„Ich grätsch jetzt mal dazwischen. Du kanntest den Herrn Lichtward offenbar zumindest oberflächlich. Nachbar? Kneipe? Das eröffnet andere Möglichkeiten als 2 Minuten mit einem Fremden, den man nie wieder sieht, auf nem Parkplatz. …“
Ich weiß, ich bin ein fieser Möpp, aber so etwas von ganz …, das glaubst de nicht. Eine solche Reputation ist erarbeitet, die muß man ab und zu auffrischen und verteidigen. Ich frage Tante Google um Hilfstruppen und Verbündete an, bringe meine Argumente in Stellung und dann ist der Kommentar weg. Wie stehe ich denn nu da? Den Bündnisfall ausgerufen, die Mobilisierung eingeleitet, jetzt alles für nichts, für die Katz. Beim nächsten Mal reagieren die Bündnisgenossen eventuell nicht. Da geht nicht. Jetzt müssen wir daraus ein Manöver machen.
Kneipe ist als Wort mit geläufigen Sprachgebrauch zu verstehen. Ich weiß der Laden hat große Leuchtreklame vor der Eingangstür worauf deutlich zu lesen „Biesentaler Hof“ steht. Da besteht ein Grund für die Bezeichnung Kneipe und nicht Biesentaler Hof.
Eine anständige Kneipe wird stets mit dem Namen bezeichnet. In der Gegend Berlin Wedding war das das Zum-Zum, zwei Ecken weiter Pankstraße Ecke Soldiner. In Kreuzberg war es der Leierkasten, in Schöneberg das Chaiselounge oder die Ruine, die wirklich eine war. Dazwischen gibt es die Lokalitäten, in denen sich die Facharbeiter und Handwerker treffen. Diese sind daran im Sprachgebrauch als Persönlichkeiten des Betreibers erkenntlich, also bei Hotte oder ähnlichem unabhängig von dem Namen der Gaststube. Und so als Geheimtipp, wenn der freie Markt keine Handwerker in angemessener Zeit hergibt, dann fragt man Hotte ob er da jemanden kennt, der helfen könnte, Hotte kennt mit Sicherheit jemanden und stellt den Kontakt her. Allerdings bestehen bei der Kommunikation auch gewisse Regeln, pragmatisch kommt das in dem Spruch: „die Schweine erkenne ich am Gang“ zum Ausdruck. Hotte bekommt nämlich Rückmeldung: so etwas brauchst du mir nicht noch einmal andienen, da ist es dann wie bei einem Biber ein Staudamm, es fließt keine Information mehr. Auf der anderen Seite steht da der Erfolg, in Zeiten der Vollbeschäftigung hat man einen Handwerker für seine Kleinigkeit kurzfristig, fachlich korrekt und zuverlässig.
Alle Lokalitäten haben ihre eigene Charakteristik. Ohne den Sprachgebrauch ist beim Betreten des Lokals die Kategorisierung an der Einrichtung und anderen Indikatoren erkennbar. In der Kneipe der ersten Kategorie liegt meistens eine Zeitung herum, in Berlin die BZ, eine Boulevardzeitung, wenn der Wirt belesen ist, gibt es noch eine zweite: die Bild. Damit ist Kommunikationsbasis definiert.
Der Wirt des Biesentaler Hofes stammte aus einer Gastronomenfamilie. Seine Eltern betrieben bis in die fünfziger Jahre die Schankwirtschaft mit großem Saal und Biergarten „Grüner Baum“ in Ronneburg, ein durchaus stattlicher Betrieb mit Blick auf den späteren Urantagewerkabbau der Wismut. Die paßten nicht in den Arbeiter- und Bauernstaat, so daß sie bei Nacht und Nebel sich nach Berlin absetzten. In Berlin übernahmen sie den Biesentaler Hof und als ein Teil von diesem wuchs der Wirt auf, zunächst mit dem ewigen Ärger über seine Herkunft und Sprache. „Wie der spricht, der Sachse“, ein penetranter Angriff auf seine Persönlichkeit. „Ich bin keen Sachse, ich bin Thüringer!“ Später arbeitete er als Hooker auf dem Bau, was wohl Bauhelfer für Maurer bedeutet, die einfache Zuarbeiten leisten und das Material über die Baustelle wuchten.
Die Eltern starben und so führte er den Biesentaler Hof weiter. Doch so einfach ist es auch nicht. Die Biesentaler Straße wurde zum städtebaulichen Sanierungsgebiet. Im Vorfeld wurden die Häuser von der DeGeWo zusammengekauft und die Bewirtschaftung mit dem Ziel einer späteren Sanierung umgestellt. Die Folge war der Wegzug und die Dezimierung der deutschen Bewohner, die neuen Bewohner waren vielfach Muslime und „Gastarbeiter“, die für die Heimat sparten, in die Moschee gingen, jedenfalls die nichts mit der Kultur des „zweiten Wohnzimmers“ zu tun hatten. Die Veränderung hatte direkte Auswirkungen auf den Umsatz. Trotz Investition in neue Bestuhlung, der Marktdruck war enorm, denn alle paar Meter war eine weitere Lokalität dieser Art.
Direkt neben dem Biesentaler Hof hatte ich einen Laden gemietet und „Selber Drucken“ angeboten. Im Jahre 2024 fand sogar sich ein Foto vom Zustand cirka 1981.
Immer wenn der Frust über das leere Lokal groß war und die Tageskasse es her gab, wurde Marktforschung betrieben. Dazu ging es zunächst um die Ecke ins Soldiner Eck, eine Kneipe mit 24-Stunden – sieben Tage die Woche – Betrieb, außer in einem Lockdown oder bei Ausgangssperre, was beides damals nicht zutraf.
Sanierungsgebiet bedeutet auch immer Einbruchdiebstähle nehmen zu. Was nicht in der Zeitung steht, hörte der Gastwirt von Kollegen. Da war eine Häufung dieser Vorgänge, die kam von der Koloniestraße über die Soldiner näher und auch bei ihn an. Die Täter haben das Gebiet systematisch abgearbeitet ohne vorher die Nutzung der Automaten zu checken, denn bei ihm lief wegen der mangelnden Kundschaft die „Goldene 7“ selten oder gar nicht.
Und es wurde schlimmer. Der Tante Emma-Laden auf der Ecke Biesentaler-Wriezener Straße wurde durch den privaten Vermieter per Mieterhöhung liquidiert. Die neuen Mieter, ein Pärchen mittleren Alters, eröffneten das Storchennest, eine Kneipe. Alles frischer, heller und neu, ansonsten Kneipe, zwei Daddelautomaten und eine Musikbox. Diese wurde meistens oder immer durch die Bewirtung in Gang gesetzt. Das geht ins Geld, dafür hatten sie (später?) eine Vereinbarung mit dem Aufsteller, denn ihre Münzen hatten eine Markierung mit Filzstift. Das Lokal beunruhigte den eingesessenen Gastronom nicht. Wenn der neue Kundschaft anzieht, fällt früher oder später ein Besuch im Biesentaler Hof an. Das hielt nicht lange und die Jungunternehmer suchten sich einen Investor, sie bewirtschafteten das Strochennest weiter, nur der Besitzer war ein anderer. Dann verschwand die Frau und ein paar Monate später stand der Investor hinter dem Tresen und jaulte: „mein Heinz hat mich verlassen, ist verschwunden.“ Ich traf „Heinz“ (der Name ist noch zu prüfen) einige Zeit später am Humboldthain, zwar barfuß, jedoch nüchtern und ansonsten intakt.
Auf der anderen Straßenseite war auch ein Etablissement, welches auf und zu machte aber nie länger existierte. Heute ist es eine Kita, die Geschichte von solchen Einrichtungen lassen wir hier außer Betracht, aber ist auch eine Geschichte von gut gewollt und nicht gekonnt.
Auch ohne statistische Erhebung und Auswertung hat mein Wirt erkannt, dort wo Frauen als Bedienung beschäftigt waren, fanden sich auch mehr Gäste ein. So kam Petra, eine Studentin aus dem Hause tageweise zum Einsatz. Diese war dann auch im Soldiner Eck und schließlich bei einem „Hotte“ am Anfang der Biesentaler Straße. Dort fand sie es angenehmer, sagte sie. Die Frau des Eismann-Handelsvertreters mit eigenem Lieferwagen bekundete auch Interesse am Tresen auszuhelfen. Das hat auf die Schnelle nicht mehr geholfen. Zum einen, weil Frau alleine zu wenig ist und Erfahrung in Personalsteuerung hatten die anderen viel mehr. Daneben brauchen Restrukturierungsmaßnahmen Zeit und vor allem definierte Ziele, was wie erreicht werden soll. Als Nebeneffekt beschwerte sich später der „Eismann“: der Biesentaler-Hof beziehungsweise die Erfahrung als Tresenkraft hätte ihm die Trennung von seiner Frau gekostet.
Der Biesentaler Hof war unregelmäßig mehrere Tage geschlossen, der Rolf sei auf Tour hieß es, was deutlich über Marktforschung hinausging. Eine ehemalige Lebensgefährtin brachte das in einem Abschiedsbrief auf den Punkt: „Immer wenn es Probleme gibt, haust du ab in den Alkohol und bist tagelang verschwunden.“ Einmal hatte er ein Bußgeld zu zahlen, was er nicht tat, es kam zu einer Haft, aus der er sich freikaufen hätte können. Haft ist günstiger als mit Geld, was man besser gebrauchen konnte, dafür zu opfern. Diese Frau, so berichtete er, ist herumgelaufen hat sich das Geld hier und da gepumpt und ihn freigekauft. Diese Woche hätte er locker im Gefängnis überstanden. „Für so etwas gibt man kein Geld aus.“
Einmal sprach er mich an, ob wir ein Faß Bier von der Brauerei holen könnten, es sei ihm ausgegangen. Später nach dem kompletten Zusammenbruch der Existenz habe ich die Weigerung der Brauerei ihn zu beliefern nachvollziehen können. Das war ein stufiges Verfahren, zunächst gab es keine Lieferung mehr ohne sofortige Bezahlung. Dann wird wohl auch ein Mindermengenzuschlag berechnet. Daneben bestanden rückständige Raten aus dem Brauereidarlehn für die Bestuhlung.
Der Kutter Biesentaler Hof war angeschlagen und das Wasser stieg im Kahn. War der Gastwirt früher ein verantwortungsvoller Mann, der seine Alkoholiker nach deren Erreichen ihres Pegels alkoholischer oder finanzieller Art nach Hause schickte, so kam es nach Wasserstand vor zugunsten von etwas mehr Umsatz noch zwei Schnaps mehr zu verkaufen. Wer da glaubt, so ein Suffkopp merkt das nicht, liegt falsch, auch die reagieren auf Geldmangel, der immer früher kommt.
Robert Altmann hat in dem Film „The last Radio Show“ mit den Worten „die Sorte, die vor fünfzig Jahren gestorben ist, aber man hatte vergessen es ihnen zu sagen“ die spürbare Stimmungslage im Biesentaler Hof treffend beschrieben.
Die Sanierung kam zum Abschluß, das Hinterhaus und der Seitenflügel waren zurückgebaut, ein Spiel- und Grillplatz sowie Mietergärten angelegt. An der Misere durch die Bewohnerstruktur änderte sich nichts. Es kam Post von der Hausverwaltung, die der Wirt ungeöffnet in eine Schublade legte. „Was werden die schon wollen: Geld.“ Da war dann nichts mehr zu retten oder zu bewegen, er mußte zu einer Schuldnerberatungsstelle. Der Biesentaler Hof wurde geschlossen, seine darüber liegende Wohnung wurde gegen eine kleinere getauscht, das Arbeitsamt schickte ihn in eine Maßnahme zur Aktualisierung des Bauhelfers im Spezialgebiet Sanierung und Restaurierung mit anschließender Beschäftigung. Der Nachruf auf den Biesentaler Hof erschien in der Beilage der Zeit mit dem Titel „Ein Gastwirt gibt auf“.
Da war er nicht Einzige und der letzte. Das Zum-Zum wurde vom Kapitalismus auch gefressen, zunächst eine deutliche Mieterhöhung, darauf wurde investiert in eine Küche, das Essen war gut, der gesteigerte Umsatz reichte aber nicht, es folgte eine Pizzeria und nun ist es eine Cocktailbar.
Diese Geschichte habe ich ein kleines bisschen auf den Begriff Kneipe verkürzt.
Fritze, er war Rentner und wann Fritze im Biesentaler Hof auftauchte, weiß ich nicht. Ich hatte einen Laden neben dem Biesentaler Hof und habe mich als Vertreter der von der Sanierung betroffenen Mieter in die Betroffenenvertretung wählen lassen. Aus diesem Grund pflegte ich die Kontakte in der Straße. Wenn ich in das Lokal kam und Fritze da war, würfelten er und der Wirt um einen „Kümmerling“, was ein Kräuterlikör ist. Meistens hatte er schon glasige Augen. Wer verlor zahlte die beiden Liköre. Da er aber das Lokal noch bis zum letzten Gast aufhalten wollte, trank der Wirt seinen xten Kümmerling nicht gerne selber, den gewonnenen mußte er schon selber trinken, den verlorenen nur Anfangs. Das ist so eine Regelung von Ehre. Bevor ich mein Bier ausgetrunken hatte, wurden mir zwei oder drei von den Likören zugeschoben, bevor ich mich verdrücken konnte.
Eines Tages war nur Fritze im Hof, ich sah herein, da beschloß der Wirt die neue Konkurrenz in Augenschein zu nehmen. Die Zapfhähne und Gläser wurden gespült, das Licht gelöscht und den Eingang durch Holzrollläden mit Sicherungseinrichtung verschlossen. Nach dem ersten Bier im Storchennest erzählte Fritz von seinem letzten bedrückenden Erlebnis. Er war im Puff um die Ecke, genaue Adresse kann im Soldiner Eck bei Inge nachgefragt werden, und da war auf der einen Seite sein Bedürfnis und auf der anderen der Trainingszustand. Das mußte begossen, ähh ertränkt werden.
Apropos Inge, als Überlebende versucht sie die Geschichtsschreibung a la Caesar-Style zu manipulieren. Von wegen im Wedding wird nur Schultheiß getrunken. Im Biesentaler Hof gab es immer und nur Berliner Kindl.
Jedenfalls habe ich Fritze nie ohne den Gastwirt getroffen.